2 Girls

2 Girls, ein aus einem Forschungsprojekt über junge Binnenmigrantinnen entstandener Dokumentarfilm des italienischen Filmemachers Marco Speroni, gibt Einblick in die Lebensumstände zweier vor Armut und Missbrauch aus dem ländlichen Umfeld geflüchteter junger Frauen: die in einer Nähfabrik arbeitende Lita in Dhaka (Bangladesch) und die Sexarbeiterin Tigris in Addis Ababa (Äthiopien).

Der Dokumentarfilm 2 Girls vom italienischen Regisseur Marco Speroni entstand 2016 aus dem zwischen 2014 und 2015 rund um Katarzyna Grabska in Genf durchgeführten Forschungsprojekt „Time to Look at Girls: Adolescent Girls Migration and Development“, das die gestiegene Zahl an allein in umliegende Städte migrierenden minderjährigen Mädchen in Entwicklungsländern als Ausgangspunkt für die Frage nahm, welche Gründe die jungen Frauen zum Aufbruch zwingen und welchen spezifischen Herausforderungen sie gegenüberstehen.Für den Film 2 Girls reiste Speroni in zwei der untersuchten Gebiete, Äthiopien und Bangladesch, und gewann über das bereits bestehende Forscherteam Einblick in das Leben einiger betroffener Jugendlichen. Zwei der Mädchen, Lita und Tigris, schenkten ihm so weit ihr Vertrauen, dass sie sich dazu bereit erklärten, sich im Film zu zeigen, was besonders für die Äthiopierin Tigris schwer fiel, die in ihrem religiös geprägten Land als Sexarbeiterin ihr Geld verdienen muss.

Warum nun die eigene Familie verlassen? Obgleich in zwei grundverschiedenen Ländern beheimatet, ähneln sich die Biographien der beiden Protagonistinnen. Beide in ländlichen Gebieten geboren, zwang sie die Armut und die Hoffnung auf ein besseres, selbstbestimmteres Leben, die Reise in die Metropolen Dhaka und Addis Ababa anzutreten.

Lita entflieht der (Bildungs-)Armut des ländlichen Bangladesch, in dem sie als Halbwaise mit ihrer Mutter lebte, und schuftet nun schon seit 8 Jahren in Dhaka in einer Nähfabrik – den ganzen Tag, plus Überstunden, die allein es ihr erst erlauben, Geld für sich und ihre Familie anzusparen. Den Slum, in dem sie „lebt“, sieht sie nur in den spärlichen Ruhestunden der Nacht.

Tigris entfloh den Schlägen und Demütigungen ihrer Tante, die sie nach dem Tod ihrer Eltern aufnahm. Weshalb die Misshandlungen? Den Test in der Schule hatte sie besser abgeschnitten als der Herr des Hauses. Während letzterem nun unverdienterweise ein wenig mehr Bildung zuteil kommt, bleibt sie Tigris gänzlich verwehrt. Sie schlägt sich auf der Straße Addis Ababas durch, erfährt Verwahrlosung, Vergewaltigung – eine der ersten ausgerechnet von einem NGO-Mitarbeiter – und soziale Stigmatisation aufgrund der Sexarbeit, die allein ihr ein geregeltes Einkommen sichert.

Speroni liefert mit 2 Girls eine solide Dokumentation, die klassischen Erzählmustern folgt. Die beiden „Mädchen“ werden anfangs kurz in ihrem Zuhause gezeigt und gegenübergestellt, bevor der Titel des Films erscheint und das Publikum mittels Establishing Shots – weiterhin stringent alternierend – in die beiden Städte aus der Vogelperspektive eintaucht, ehe Lita und Tigris im weiteren Verlauf – teilweise unter Tränen – ihre Erfahrungen erzählen. Dabei weicht die Kamera ihnen fortan kaum mehr von der Seite – extreme Nahaufnahmen (Gesicht, Augenpartie, sprechender Mund) offenbaren den Blick, den das Gegenüber einnimmt, wenn es die Geschichte der Fremden erfahren will. Die eingenommene Perspektive lässt aber auch die Emotionalisierung der Zusehenden zutage treten, die vom Gehörten zusehends affiziert werden und die jungen Frauen mehr und mehr – zumindest scheinbar – kennenlernen. Dass die Namen – und damit die Identität der Gefilmten – erst ganz am Ende des Films aufscheinen, übersetzt so diesen Prozess des Kennenlernens auf singuläre und vor allem stimmige Weise.

Unüblich für ein Forschungsprojekt hebt Speroni im Interview1 2016 anlässlich des finnischen „Viscult Film Festival of anthropological and ethnographic documentaries” mehrmals den eigenen Prozess der Emotionalisierung hervor:

„I can say that today I’m even more emotional affected by the girls and their stories then when I started filming. This documentary is part of my life and it will be forever.”

Dass er die Geschichten in sich fortträgt und mit dem Film das Publikum ähnlich wachrütteln, ähnlich berühren möchte, wird evident, wenn die extremen Nahaufnahmen alterniert werden durch willkürlich eingefangene Szenen, fast möchte man „nachgestellte“ Szenen sagen, die das im Off weiter Erzählte mittels einer subjektiven, beweglichen Kamera illustrieren. Ganz als würde man das angsteinflößenden Nachtleben durch Tigris‘ Augen sehen und die entfremdete Fabrikarbeit durch Litas. Wobei die größtenteils vorwurfsvollen Blicke der anderen Näherinnen keinen Zweifel daran lassen, was sie von diesem So-tun-als-ob-Spiel halten.

Jahre sind vergangen seit ihrer Flucht in ein vermeintlich „besseres“ Leben. Was die Zuschauenden – besonders die Zuschauerinnen – sich fragen werden: Wieso bezeichnet man die beiden immer noch verniedlichend als „girls“? Weil sie im Stillen noch Kinder sind, ihrer Kindheit beraubt, schwach und schutzbedürftig, und vor allem: unmündig? Ab wann wären sie für die Kamera „richtige“ Frauen – und was ist das überhaupt, eine „richtige“ Frau?

Könnten wir es nicht ertragen, „reife“ „Frauen“ in solch einer Lage zu sehen, weil ihr Alter implizieren würde, dass die großen Entscheidungen ihres Lebens – was werde ich, wer möchte ich sein? – bereits gefällt wurden – oder eher niemand mehr nach ihnen fragt? Fühlen wir uns dagegen wohler vor der kindlichen Lita – Speroni unterstreicht im Interview mehrmals die „sweetness“ der Jugendlichen –, der wir noch die Möglichkeit zugestehen, ihrem Leben eine Wendung geben zu können?

Was 2 Girls neben Strategien der Anteilnahme – von Seiten des Filmenden – vor allen Dingen inszeniert, sind die Techniken der Selbstdarstellung in narrativen Interviews. Erzählt man die eigene Biographie, ist das entstandene narrative Interview stets ein interaktives Produkt zwischen Interviewenden, die oder der bewusst/unbewusst unausgesprochene Erwartungen aussendet, und Interviewtem, die oder der bewusst/unbewusst das Erzählte vor dem Hintergrund dieses Kontexts modelliert, soll heißen: auswählt, neu interpretiert, zensuriert, dem Erlebten retrospektiv einen „Sinn“ zuweist.2

2 Girls ist das visuelle Produkt solcher narrativer Interviews. Nachdem wir als Zuschauer die Reise der Jugendlichen vor unserem inneren Auge nacherlebt haben, sehnen wir uns nach einem Moment der Katharsis. Was ist die Zwischenbilanz, der Sinn, den beispielsweise Tigris aus ihrem bisherigen Leben zieht?

„This is not the life I wanted but I thank God for everything. I want to quit this job. Forever. Despite the feeling that I hide I try to be happy and live a normal life. Life is fine”.

Der Film wurde 2016 mit Preisen für den besten Dokumentarfilm auf dem Warschauer „HumanDoc Film Festival“, dem „Rome Independent Film Festival“ (RIFF) und dem „Tiburon International Film Festival“ (TIFF, USA) ausgezeichnet.

Mit wie vielen Preisen wurden die beiden Frauen, nicht Mädchen, ausgezeichnet?

Text: Andrea Krotthammer

1Cf. Franceschini, Rita (2001): „Biographie und Interkulturalität: Eine Einladung zur konstruktivistischen Reflexion“. In: Franceschini, Rita (Hg.)(2001): Biographie und Interkulturalität. Diskurs und Lebenspraxis. Tübingen: Stauffenberg; S. 7-12, hier: 9-10.
2Cf. http://www.pkey.fi/viscult/2017/ajankohtaista-v2-eng.php?s=this-is-not-the-life-i-wanted-but-i-thank-god-for-everything [15.08.18]. Die Fehler im Englischen wurden belassen.

Credits

Category: Documentary film
Director: Marco Speroni
Script: Federico Schiavi, Marco Speroni
Cinematography: Riccardo Russo
Editor: Federico Schiavi
Production company: Nacne
Language: Bengali/Amharic – English subtitles